Autorenbrief Juni 2020: Es geht um einen Kerl, der ...

Liebe Autorinnen und Autoren,

jeder Autor hat die Situation schon erlebt: das Suchen nach dem Anfang, dem ersten Satz oder Absatz für einen neuen Text. Selbst der amerikanische Erfolgsschriftsteller Philip Roth (Der menschliche Makel) musste sich damit herumschlagen: „Ich schreibe das eine, und wenn mich das an etwas anderes erinnert, schreibe ich das andere. Ich versuche nicht, eine zusammenhängende Seite zu schreiben, ganz abgesehen von einem zusammenhängenden Text. Ich versuche lediglich, mich freizuschreiben, und ich mache das mit freier Assoziation. Natürlich folge ich nicht jedem assoziativem Impuls, aber doch jenen, von denen ich glaube, dass sie einen Absatz zutage fördern. Über die Anordnung mache ich mir keine Gedanken.“

Es klingt wie aus dem Klassiker über assoziatives Schreiben von Gabriele Rico Garantiert schreiben lernen, demnächst unter dem Titel Frei schreiben im Autorenhaus-Programm.

"Als Schriftstellerin bin ich es gewohnt, allein mit meinen Gedanken zu sein, sagt Cora Stephan (Margos Töchter) alias Anne Chaplet (Brennende Cevennen) zur Isolierung in Corona-Zeiten. Und auf die Frage ihrer Interviewerin Christiane von Korff  warum sie für ihre Kriminalromane ein Pseudonym gewählt hat, gesteht sie: „Ich hatte Angst vor dem Urteil meiner journalistischen Kollegen, dass sie sagen würden, jetzt meint sie, auch noch Krimis schreiben zu können. Ich wollte, dass die Bücher ihren Weg zum Leser finden, ohne dass man weiß, wer dahintersteckt.“ Und dass sie es kann, hat sie inzwischen reichlich bewiesen.

Über die Arbeit an seinem dritten Roman sagt Joel Dicker: "Ich empfinde einen Plot als einengend, die Möglichkeiten dann limitiert. Wenn du den Plot zu dir kommen lässt, kannst Du alles machen. Bestsellerautoren wie Ken Follett empfehlen aber auch, die Struktur eines Romans sorgfältig zu planen und die Figuren detailliert zu entwickeln. Für die meisten Drehbuchautoren ist die Struktur wie ein Leitfaden: „Wenn Sie vor 120 leeren Seiten sitzen, brauchen Sie zur Strukturierung Ihrer Story nur vier Dinge zu kennen: Das Ende, den Anfang, Plot Point I und Plot Point II“, sagt Hollywood-Guru Syd Field. Denn es sind die Plot Points, die Wendepunkte eines Films, die die Geschichte voranbringen.

Für den Autor ist es ein doppelter Segen, wenn aus Bestsellerromanen Filme werden. Das Erfolgsrezept: Struktur und  überlebensgroße Charaktere. Denn auch Romanautoren arbeiten nach dem 15-teiligen Beat-Sheet in Rette die Katze von Blake Snyder.  Und sogar Werbe- und Marketingleute nutzen es fürs Storytelling nach dem Motto: „Es geht um einen Kerl, der …“ In der SZ-Kulturbeilage vom April heißt es: “Selbst wenn man nicht vorhat, eigene Filme zu schreiben, lernt man mit diesem unterhaltsamen Buch.“

Vermissen auch Sie Filmeansehen im Kino? In Berlin gibt es inzwischen drei Autokinos (von denen ich weiß). Sogar Auto-Partys werden in Coronazeiten auf umfunktionierten Flugplätzen und anderen Großparkflächen gefeiert, weil hier die Zahl der Zuschauer pro Auto kontrollierbar ist. Die kühlen Norddeutschen bringen es fertig, im Auto zu tanzen bis die Armlehnen brechen. Jedenfalls haben DJs wieder Arbeit, nur Helge Schneider ist da eigen: „Ich trete nicht vor Autos auf.“

Gefreut habe ich mich vor kurzem über ein Gedicht von Volker Sielaff zu dem Autorenthema „Neuerscheinung“ – ein perfektes Beispiel wie spannende Lyrik aus einer banalen Situation entsteht. In klassischer Versform beginnt es: „Deiner Fracht folgend, Hermes, lief ich dir nach durchs ganze Viertel …“ weiter im Tieger-Blog.

Herzliche Grüße und … passen Sie gut auf Ihre eigenen flüchtenden Vershunde (s.o.) auf.

Ihre Gerhild Tieger