Adam Zagajewski: Phantasie, nicht Einbildung

Der Schriftsteller Tadeusz Dabrowski hat eines der letzten Gespräche mit dem Dichter und Schriftsteller Adam Zagajewski geführt und ihn auch nach der Phantasie als "Verbündete oder Feind" des Schriftstellers gefragt:

 "... ich sehe die Phantasie als Verstärkung der Stimme. Denn man kann in der Phantasie eine Flucht aus dem Augenfälligen, dem Empirischen sehen, aber man kann sie auch als Verstärkung verstehen, als Amplifikation, als Ausweitung dessen, was uns begegnet. Dank dieser Verstärkung ist die sprachliche Aussage weitaus plastischer und universeller. Die Phantasie bewirkt, dass wir die Wirklichkeit anders fassen als die Journalisten (bei allem Respekt vor dem Journalisten), sie bewirkt, dass geheimnisvolle Regionen erscheinen, auf die das Gedicht zusteuert, in denen es jedoch nie ankommt. Das Gedicht steht gleichsam auf halbem Weg, es soll emporsteigen, aber nicht fortfliegen. Die Phantasie als Werkzeug der Bereicherung unserer Sprache und der Art und Weise, die Welt zu betrachten, ist für mich etwas sehr Schönes und Unentbehrliches. Doch sollten wir daran denken, dass es einen Unterschied zwischen Einbildung und Phantasie gibt. Einbildung ist das Erfinden von etwas, was es nicht gibt, und Phantasie ist die Verstärkung dessen, was existiert."

aus: "Dichtung bewahrte Polen vor dem Verstummen" Tadeusz Dabrowski im Gespräch mit dem polnischen Dichter Adam Zagajewski - Neue Zürcher Zeitung 29.8.2022