Autorenbrief Juni 2023: Der erste Satz ist alles
Suhrkamp-Autor Heinz Helle hatte an diesem Tag darum gekämpft, sich frei zu machen fürs Schreiben: Er weiß noch genau, wo ihm der ersehnte erste Satz eingefallen ist: "Das war im Café Saint Chavez in Biel, es war morgens ... Da saß ich an diesem Tisch in diesem Café und hab noch, bevor ich bestellt hab, ins Notizbuch gekritzelt, eine erste Fassung des Anfangskapitels, und da stand dieser Satz schon, ganz am Anfang, genauso, wie er da jetzt ist: 'Über allem der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin.'" Und der wurde dann auch zum Buchtitel.
Seinen Drehbuchautoren empfahl Hollywood Produzent Samuel Goldwyn statt Explosionstoff ein ruhigeres Beginnen: "Mit einem Erbeben anfangen und dann langsam steigern.“ Vielleicht fangen Sie ersteinmal mit Natalie Goldbergs Creative-Writing-Bestseller an: Schreiben in Cafés, der Band ist jetzt wieder lieferbar, 200 Seiten, Hardcover, Lesebändchen, 19,90 Euro.
Der amerikanische Erfolgsautor Philipp Roth hatte offenbar Probleme mit Schreibanfängen: "Ich tippe Anfänge, und die sind schrecklich." Er gestand einmal, dass von 100 geschriebenen Seiten nach sechs Monaten Arbeit oft nur eine Seite übrig bleibt. Autoren, die nicht so berühmt sind, suchen sich einen mutigen Verleger, eine begeisterte Lektorin, und geben nicht auf: Petra Hammesfahr erhielt immerhin 159 Absagen bis "Der Playboy" ihre erste Kurzgeschichte veröffentlichte.
Drehbuch-Profi Chris Keane beginnt sein erstes Kapitel "Der leidige Anfang" in Schritt für Schritt zum erfolgreichen Drehbuch mit dem Zitat von Ernest Hemingway: "Die erste Fassung ist immer Scheiße". Vielen Autoren geht es so: Die Idee ist da, der Wille auch, und trotzdem schaffen sie es nicht, mit dem Schreiben anzufangen. Es fehlt der starke erste Satz. Und je länger sie darauf warten, umso mehr haben sie das Gefühl, dass sie aus der Sackgasse nicht herauskommen.
Solche Situationen hat Steven Pressfield selbst erlebt. Nicht nur, wenn er einen neuen Roman oder ein Drehbuch schreiben wollte. Bis er den Grund dafür erkannte - und für sich und alle, denen es ebenso geht, The War of Art schrieb: The War of Art – So durchbrechen Sie innere Blockaden und gewinnen kreative Energie, 176 Seiten, Hardcover, Lesebändchen, 16,80 Euro, Zweite Auflage. Für die Bloggerin Caroline war Pressfields War of Art eine Wende: "Sein Buch zeigt wie viele innere Widerstände wir haben. Was uns davon abhält, kreativ zu sein, sind wir selber. Banal, oder? Er schreibt so treffend und knapp, dass es wirklich beim Leser ankommt, man fängt an, sich zu winden und zu zappeln, weil man spürt, dass das genau das ist, was abläuft. Wir sabotieren uns selber. Pressfield zeigt, was wir brauchen, um loszulegen. Bevor ich Pressfield las, hatte ich nicht den nötigen Drive, jetzt schreibe ich täglich, bin im Fluss."
Hier etwas über die Liebe: T.C. Boyle, der in seinen Romanen manchmal drastisch den Weg zum Untergang unseres Planeten beschreibt, ist ein toleranter Mensch. Der Schriftsteller lebt selbst vegetarisch, kauft aber im Supermarkt Steaks für seine Frau: Das nennt man Liebe. Und Liebe ist es wohl auch bei dem dreimal verheirateten Filmregisseur Claude Lelouch (85), der die Ehe noch ein viertes Mal wagt: Er hat die Schriftstellerin Valérie Perrin (55) geheiratet. Ob ihn das noch einmal zu einem Film wie "Ein Mann und eine Frau" inspirieren wird?
Zum Schluss noch eine Ermutigung des Schriftstellers Cesare Pavese für alle Autoren auf der Suche nach dem ersten Satz: "Die einzige Freude auf der Welt ist das Anfangen." Und jetzt sind Sie dran!
Herzlich
Ihre Gerhild Tieger