Autorenbrief Dez. 2023: Fürchtet Euch nicht!
Liebe Autorinnen und Autoren,
Albert Henrichs, Lektor im S. Fischer Verlag, wollte wissen: Sind Autoren als Urheber durch Künstliche Intelligenz ersetzbar oder gar überflüssig geworden? Gemeinsam mit der Hanser-Autorin Jennifer Becker, die an der Universität Hildesheim zu Künstlicher Intelligenz und Literatur forscht, hat er mit der Chat-GPT Texte schreiben lassen. Das Ergebnis: Nur durch viel Arbeit konnten daraus gute Texte entstehen. Statt des mühsamen Lektorats hätten die Autoren auch einen eigenen Text schreiben können – und wären schneller gewesen.
Bekäme der Fischer-Lektor ein von einer Künstlichen Intelligenz verfasstes Manuskript auf den Tisch, er würde es mangels Qualität aussortieren. Was fehlt daran? Die Antwort: Originalität.
Es muss also kein begabter Schriftsteller fürchten, von einer KI erzählerisch in den Schatten gestellt zu werden. Lektor Henrichs: "Die KI kann schon einiges, aber einen Bestseller schreibt sie noch nicht." Ein Chatbot liefert, was man anfragt und produziert schnell eine Antwort, aber keine Literatur. Mehr aus dem F.A.Z.-Artikel von Melanie Mühl: "Wie erschafft man einen Bestseller".
Das Schreiben entwickelt sich mit dem Autor. Peter Stamm (2023 erschien sein Roman Das Archiv der Gefühle) hat es so erlebt: "Die literarische Arbeit ist oft weniger eine Arbeit an der Sprache als eine Arbeit an sich selbst. Denn nur wer sich selbst verändert, kann seine Stimme nachhaltig verändern. … Vom Moment, in dem ich mich entschloss, Schriftsteller zu werden, bis zur Publikation meines ersten Romans vergingen fünfzehn Jahre, Zeit, die ich brauchte um zu leben, Erfahrungen zu sammeln, vieles zu lernen und um sehr viel zu schreiben und sehr oft zu scheitern."
Schriftsteller werden auf die verschiedenste Weise geehrt. Früher gab es ein Weindepot (99 Flaschen) für den Jahresbedarf, heute werden immer noch Aufenthaltsstipendien, großzügige Geldpreise, Verlagsveröffentlichungen, kostenloses Schreibcoaching vergeben. Etwas Besonderes ist jedoch die Ehre, ein Teil des Alls zu werden. Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa wurde 2014 zum Asteroid "17466 Vargasllosa". Ein Astronom und Llosa-Bewunderer hatte den noch unbekannten Himmelskörper entdeckt. Ein Stern am Himmel der lateinamerikanischen Literaten war der Schriftsteller schon vorher.
Für die Ausstellung Singen! Lied und Literatur im Marbacher Literaturmuseum hatte die Kuratorin Gunilla Eschenbach eine ungewöhnliche Idee: Die interaktive Song-Tool-Box. "... Das Gerät ähnelt einer Karaoke-Box, hat aber mehr Funktionen. Man kann Texte und/oder Melodien der Exponate selbst mischen, neue Beats darunterlegen, und dabei singen oder tanzen. (...) Die Song-Tool-Box macht aber nicht nur Spaß, sondern bietet ... einen ganz eigenen Zugang zu der doch recht kleinen Ausstellung." - Immerhin finden Beispiele aus drei Jahrhunderten - von Barock bis Rock - darin Platz. Mehr im Autorenblog.
Die amerikanische Psychotherapeutin und Bestsellerautorin Nicole LePera fordert in ihrem Buch Heile dich selbst: "Schreib einfach auf, was dir als Erstes einfällt". Sie ist davon überzeugt, dass psychische Verletzungen aus der Kindheit bis ins Alter ihre Wirkung haben und dass darüber zu schreiben hilft, das eigene Wesen und das der anderen zu verstehen: Figuren im selben Leben.
Warum schreibe ich überhaupt? Das haben sich Autoren schon immer gefragt, oft, wenn es bei ihnen mal nicht so gut läuft. "Für wen also schreibt der Schriftsteller? Die Antwort ist offenkundig: für sich selbst", meinte Imre Kertész. Tun Sie also etwas für sich, liebe Autoren, schreiben Sie - nicht nur für Ihre Leser!
Das wünscht Ihnen für das kommende Jahr
Ihre Gerhild Tieger
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